Lang lang ist's her...hier nun mal eine Kurzgeschichte von mir, viel Spaß beim Lesen:
Allein im Kino. Sich
danach mit niemandem unterhalten, das ist das, was sie liebt. Mit einer Tüte
voll Popcorn setzt sich Marlene auf einen Platz direkt in der Mitte. Nicht
vorne, nicht hinten. Die Plätze um sie herum sind leer. Die Vorhänge schwingen
auf und Musik ertönt. Sie bückt sich, um ihre Schuhe auszuziehen. Plötzlich
wird ihr schwindelig und schwarz vor Augen.
Als sie ihre Augen
öffnet findet sie sich auf einer Straße wieder, die gesäumt ist von kleinen
Geschäften, Cafés und Restaurants. Es ist seltsam ruhig um sie herum, die
Menschen bewegen sich nicht, alles scheint wie eingefroren. Im Vorbeigehen
streift sie eine alte Frau aus Versehen mit ihrer Hand. Diese schiebt einen
Gehwagen vor sich her, vollgestopft mit Einkaufstüten. Bei der Berührung
Marlenes bewegt sie sich weiter die Straße hinunter. Sofort begreift sie und
streichelt eine unbewegliche Katze, daraufhin hüpft diese munter auf einen
Fenstersims, als hätte sie nie etwas anderes getan. Sie dreht sich um und
betrachtet aus der Nähe einen großen Mann, etwa Mitte dreißig. Er hat dunkle,
halblange Haare, die ihm vor seine grünen Augen fallen. Er trägt einen Zehn-Tage
Bart und schaut mit einem verträumten Blick vor sich hin. In seiner Hand ein
Buch. Sie kniet sich hin, um den Titel lesen zu können. "Der Fänger im
Roggen". Ein Lächeln umspielt ihre Lippen, sie fängt sofort an, sich in
ihrem Kopf eine Geschichte für diesen Mann auszumalen. Er ist ein Einzelgänger.
Er liebt es, sich allein in ein Café zu setzen und bei dem Trubel um ihn herum
in eine ferne Welt einzutauchen, um alles andere zu vergessen. Vorsichtig und
von einer seltsamen Zärtlichkeit ergriffen, da sie in solch kurzer Zeit schon
so sehr mit dieser Figur sympathisiert, berührt Marlene seine Hand. Er schaut
sie kurz an, mit seinen intensiven grünen Augen und geht an ihr vorbei. Sie
dreht sich nach ihm um und staunt nicht schlecht, als er die Tür zu einem
kleinen, heruntergekommenen Café öffnet, sich an einen Tisch in der Ecke setzt,
sein Buch aufschlägt, um voller Wissbegier und Aufregung in die Geschichte
einzutauchen.
Marlene lächelt vor
sich hin, sie ist entzückt von den Möglichkeiten, die sich hier für sie bieten.
Sie bringt ein Mädchen mit Kopfhörern dazu, ganz leise vor sich hinzusummen und
die anderen Menschen anzulächeln. Sie lässt einen kleinen Jungen einem sehr
alten Mann über die Straße helfen und manch andere einfach nur glücklich nach
Hause gehen. In ihrem Kopf bilden sich die Geschichten in Sekundenbruchteilen,
sie muss kaum überlegen, bevor sie einen Menschen berührt. Die Straße füllt
sich mit Leben, Marlene entdeckt nach kurzer Zeit niemanden mehr, der unbeweglich
ist. Ein Gefühl des Glücks übermannt sie, genauso wie das Verlangen nach
Kaffee. Um sich ein bisschen auszuruhen und den dunkelhaarigen Mann beobachten
zu können, der sie auf geheimnisvolle Weise anzieht, öffnet sie die Tür zu dem
kleinen Café. Die Sonne blendet so sehr, dass sie nichts mehr sieht. Erneut spürt
Marlene ein Schwindelgefühl. Um dem zu entkommen, tritt sie einen Schritt
weiter durch die Glastür, die beim Öffnen ein leichtes Bimmeln von sich gibt,
wie in einem alten Bücher-Geschäft, in dem sich der Besitzer am liebsten in
einer Ecke verkriecht um selbst zu lesen und seine Ruhe zu haben.
Kaum an die
Dunkelheit gewöhnt merkt sie, dass sie nicht in dem Café gelandet ist, sondern
in einer alten Bibliothek. Marlene dreht sich um, keine Tür, keine Straße. Sie
steht inmitten großer Bücherregale, die bis zu einer hohen Decke ragen, mit
kleinen Leitern in jeder Reihe, um auch an die oberen heranzukommen. Den Geruch
der Bücher liebt Marlene schon seit Klein auf und ihre Aufregung über das
vorher erlebte verpufft. Sie ist erfüllt von tiefer Entspannung und dem großen
Interesse, was sich hier wohl alles finden lässt.
Sie nimmt sich Zeit
und schlendert langsam, die Buchrücken betrachtend, am Regal entlang. Plötzlich
hört sie ganz in der Nähe einen dumpfen Aufschlag und leises Gefluche. Marlene
schiebt ein paar Bücher zur Seite und sieht einen Mann, der gerade ein Buch
fallen gelassen hat. Beim Aufheben schafft er es, mit seiner Jacke noch ein
zweites aus dem Regal zu reißen. Das Gefluche wird lauter und er dreht sich um.
Marlene erkennt mit Schrecken Herrn Lehmann und drückt sich mit dem Rücken an
das Regal. Das kann doch nicht wahr sein. Langsam tastet sie sich die
Regalreihe entlang weiter vor, um noch einmal einen Blick auf ihn zu erhaschen.
Vorne angekommen läuft sie in seine Reihe hinein und hebt eines der Bücher auf,
die auf dem Boden liegen. Herr Lehmann schaut sie kurz an, nuschelt ein
„Dankeschön“ und wurstelt weiter vor sich hin.
Marlene verlässt die
großen Regalreihen. Sie befindet sich in einem runden Aufenthaltsbereich mit
vielen dunklen, robusten Holztischen, an die Leselampen geklemmt sind. Durch
schmale Fenster, die durch ihre bunten Gläser fast wie Kirchenfenster wirken,
fällt mattes Sonnenlicht in den Raum.
Die Tische sind rege besetzt und beim Näherkommen macht Marlenes Bauch
einen weiteren Satz. Harry, Ron und Hermine sitzen an einem Tisch, über Bücher
gebeugt – zumindest Hermine. Harry und Ron kichern leise und ernten daraufhin
einen vernichtenden Blick von Hermine. Neben ihnen springt Czentovic auf und
rauft sich die Haare, vor ihm ein Schachbrett, auf der anderen Seite des
Brettes Dr. B mit einem entspannten Lächeln.
Sie wendet sich
Richtung Fenster. Dort sitzt Meggie auf dem Sims und liest Winnetou. Vor ihr am
Tisch sitzt Fynn mit Anna, der ihr das Lesen näher bringen möchte. Gegenüber
der beiden trinkt Ed Kennedy mit seinem Hund Türsteher Kaffee und beobachtet
Ronja, die auf dem Boden sitzt und einen Stock mit einem alten, fast schon
stumpfen Messer schnitzt. Marlene ist einerseits verblüfft, andererseits aber auch
entspannt. Die Gegenwart dieser Figuren macht sie glücklich und ruhig. Sie
selbst hat sich im Vorbeigehen Don Quichotte geschnappt - das wollte sie schon
lange noch einmal lesen. Sie setzt sich zu Ronja auf den Boden und schlägt
voller Vorfreude das Buch auf. Allerdings kommt sie nur bis „In einem Ort der Mancha, auf dessen Namen
ich mich nicht besinnen kann...“ , als die schwere Eingangstür zur Bibliothek
geöffnet wird. Zwei graue Herren betreten den Raum und Marlene bekommt sofort
das Gefühl, dass ihr die Zeit davon läuft. Die anderen packen hastig ihre
Sachen zusammen. Marlene tut es ihnen gleich. Sie fühlt sich bedrängt und läuft
in die Bibliothek hinein, gefolgt von den anderen. Aus einer Ecke stürzt der
kleine Max im Wolfskostüm zu der Gruppe dazu. Marlene läuft gehetzt zu einer
Tür am Ende des Ganges, aus der ein schmaler Lichtstrahl in den Raum fällt.
Fast dort angekommen und die Hand schon zur Klinke ausgestreckt stellt sich ihr
der Meister in den Weg. Hektisch schaut sie nach hinten. Die grauen Herren
kommen immer näher. Marlene fragt ihn, was er wolle, während Hermine neben ihr
die Hände über dem Kopf zusammenschlägt und beteuert, dass das wohl klar wäre,
sie kämen erst nach drei richtig beantworteten Fragen durch die Tür. Marlene
nickt dem Meister zu und signalisiert ihm, loszulegen.
„Warum wird der wilde Kerl Max von seiner Mutter auf sein
Zimmer geschickt?“ Poltert er mit tiefer Stimme.
Ein Leichtes für Marlene. Genauso, wie die zweite Frage, in
der es um den Namen des Mentors von Krabat geht. Bei der dritten Frage kommt
sie ins Schwitzen.
„Warum kehrt Oliver Twist nach seinen Besorgungen nichtmehr
zu Mr. Brownlow zurück?“ Einige Jahre ist das schon her, sie überlegt
fieberhaft. Die grauen Herren stehen fast hinter ihnen. Plötzlich schießt es
ihr wieder durch den Kopf: „Nancy und Sikes fangen den Jungen ab und zwingen
ihn, zu Fagin und seiner Diebesbande zurückzukehren.“
Der Meister tritt zur Seite und Marlene reißt die Tür auf, stürzt
hindurch und fällt, umgeben von buntem Licht, auf einen harten Steinboden.
Wieder dieses Schwindelgefühl, wieder müssen sich ihre Augen an das wirkliche
Licht gewöhnen. Sie liegt auf einer Straße, als ihr eine Hand hingestreckt
wird. Sie packt zu und sieht einen Werkzeuggürtel vor sich. Kaum steht sie,
läuft der Mann mit einer Lampe in der anderen Hand weiter. Sie schaut sich um
und bemerkt, dass sie mitten in einem Filmset steht. Sofort schwirren ihre
Blicke umher, sie durchschaut in Sekundenschnelle die Lage und schnappt sich
beim Catering ein paar Flaschen Wasser. Wie selbstverständlich läuft sie an dem
Fuhrpark des Teams vorbei zu einer Ecke, biegt nach rechts ab und findet sich
auf einer anderen Straße wieder,
die gesäumt ist von kleinen Geschäften, Cafés und Restaurants. Auf dieser Straße verteilt sie die
Flaschen an die vorbeilaufenden Crewmitglieder. Sie erkennt die Katze, die alte
Frau, das Mädchen mit den Kopfhörern. Am Café vorbeilaufend muss sie lächeln,
als sie den dunkelhaarigen Mann sieht, auf den die Kamera gerichtet ist. Ein
paar Meter weiter steht ein schwarzer Pavillon, unter dem der Monitor aufgebaut
ist, auf dem zu beobachten ist, was gerade gedreht wird. Marlene läuft wie
magisch angezogen dorthin. Der Regiestuhl ist leer. Ein junges Mädchen Anfang
20 drückt ihr eine Flasche Wasser in die Hand. Sie staunt nicht schlecht, als
sie zu dem Stuhl herunterblickt und ihren Namen auf der Rückenlehne liest.
Etwas verunsichert sieht sie nach rechts auf den Mann, der ihr zunickt mit einem
Knopf im Ohr und einem Funkgerät am Gürtel. „Wir können einsteigen“ ruft dieser
gleichzeitig auch in sein Headset. Marlene setzt sich, greift automatisch zu
den Kopfhörern, die über ihrer Armlehne liegen, zieht sie sich über den Kopf
und hebt den Blick in Richtung Monitor.
Sie erblickt sich selbst allein inmitten des Kinos mit einer
Tüte voll Popcorn. Nicht vorne, nicht hinten. Um sie herum niemand, damit sie sich
nach dem Film nicht darüber unterhalten muss.