Mittwoch, 29. April 2015

Allein im Kino

Lang lang ist's her...hier nun mal eine Kurzgeschichte von mir, viel Spaß beim Lesen:





Allein im Kino. Sich danach mit niemandem unterhalten, das ist das, was sie liebt. Mit einer Tüte voll Popcorn setzt sich Marlene auf einen Platz direkt in der Mitte. Nicht vorne, nicht hinten. Die Plätze um sie herum sind leer. Die Vorhänge schwingen auf und Musik ertönt. Sie bückt sich, um ihre Schuhe auszuziehen. Plötzlich wird ihr schwindelig und schwarz vor Augen.

Als sie ihre Augen öffnet findet sie sich auf einer Straße wieder, die gesäumt ist von kleinen Geschäften, Cafés und Restaurants. Es ist seltsam ruhig um sie herum, die Menschen bewegen sich nicht, alles scheint wie eingefroren. Im Vorbeigehen streift sie eine alte Frau aus Versehen mit ihrer Hand. Diese schiebt einen Gehwagen vor sich her, vollgestopft mit Einkaufstüten. Bei der Berührung Marlenes bewegt sie sich weiter die Straße hinunter. Sofort begreift sie und streichelt eine unbewegliche Katze, daraufhin hüpft diese munter auf einen Fenstersims, als hätte sie nie etwas anderes getan. Sie dreht sich um und betrachtet aus der Nähe einen großen Mann, etwa Mitte dreißig. Er hat dunkle, halblange Haare, die ihm vor seine grünen Augen fallen. Er trägt einen Zehn-Tage Bart und schaut mit einem verträumten Blick vor sich hin. In seiner Hand ein Buch. Sie kniet sich hin, um den Titel lesen zu können. "Der Fänger im Roggen". Ein Lächeln umspielt ihre Lippen, sie fängt sofort an, sich in ihrem Kopf eine Geschichte für diesen Mann auszumalen. Er ist ein Einzelgänger. Er liebt es, sich allein in ein Café zu setzen und bei dem Trubel um ihn herum in eine ferne Welt einzutauchen, um alles andere zu vergessen. Vorsichtig und von einer seltsamen Zärtlichkeit ergriffen, da sie in solch kurzer Zeit schon so sehr mit dieser Figur sympathisiert, berührt Marlene seine Hand. Er schaut sie kurz an, mit seinen intensiven grünen Augen und geht an ihr vorbei. Sie dreht sich nach ihm um und staunt nicht schlecht, als er die Tür zu einem kleinen, heruntergekommenen Café öffnet, sich an einen Tisch in der Ecke setzt, sein Buch aufschlägt, um voller Wissbegier und Aufregung in die Geschichte einzutauchen.

Marlene lächelt vor sich hin, sie ist entzückt von den Möglichkeiten, die sich hier für sie bieten. Sie bringt ein Mädchen mit Kopfhörern dazu, ganz leise vor sich hinzusummen und die anderen Menschen anzulächeln. Sie lässt einen kleinen Jungen einem sehr alten Mann über die Straße helfen und manch andere einfach nur glücklich nach Hause gehen. In ihrem Kopf bilden sich die Geschichten in Sekundenbruchteilen, sie muss kaum überlegen, bevor sie einen Menschen berührt. Die Straße füllt sich mit Leben, Marlene entdeckt nach kurzer Zeit niemanden mehr, der unbeweglich ist. Ein Gefühl des Glücks übermannt sie, genauso wie das Verlangen nach Kaffee. Um sich ein bisschen auszuruhen und den dunkelhaarigen Mann beobachten zu können, der sie auf geheimnisvolle Weise anzieht, öffnet sie die Tür zu dem kleinen Café. Die Sonne blendet so sehr, dass sie nichts mehr sieht. Erneut spürt Marlene ein Schwindelgefühl. Um dem zu entkommen, tritt sie einen Schritt weiter durch die Glastür, die beim Öffnen ein leichtes Bimmeln von sich gibt, wie in einem alten Bücher-Geschäft, in dem sich der Besitzer am liebsten in einer Ecke verkriecht um selbst zu lesen und seine Ruhe zu haben.

Kaum an die Dunkelheit gewöhnt merkt sie, dass sie nicht in dem Café gelandet ist, sondern in einer alten Bibliothek. Marlene dreht sich um, keine Tür, keine Straße. Sie steht inmitten großer Bücherregale, die bis zu einer hohen Decke ragen, mit kleinen Leitern in jeder Reihe, um auch an die oberen heranzukommen. Den Geruch der Bücher liebt Marlene schon seit Klein auf und ihre Aufregung über das vorher erlebte verpufft. Sie ist erfüllt von tiefer Entspannung und dem großen Interesse, was sich hier wohl alles finden lässt.
Sie nimmt sich Zeit und schlendert langsam, die Buchrücken betrachtend, am Regal entlang. Plötzlich hört sie ganz in der Nähe einen dumpfen Aufschlag und leises Gefluche. Marlene schiebt ein paar Bücher zur Seite und sieht einen Mann, der gerade ein Buch fallen gelassen hat. Beim Aufheben schafft er es, mit seiner Jacke noch ein zweites aus dem Regal zu reißen. Das Gefluche wird lauter und er dreht sich um. Marlene erkennt mit Schrecken Herrn Lehmann und drückt sich mit dem Rücken an das Regal. Das kann doch nicht wahr sein. Langsam tastet sie sich die Regalreihe entlang weiter vor, um noch einmal einen Blick auf ihn zu erhaschen. Vorne angekommen läuft sie in seine Reihe hinein und hebt eines der Bücher auf, die auf dem Boden liegen. Herr Lehmann schaut sie kurz an, nuschelt ein „Dankeschön“ und wurstelt weiter vor sich hin.
Marlene verlässt die großen Regalreihen. Sie befindet sich in einem runden Aufenthaltsbereich mit vielen dunklen, robusten Holztischen, an die Leselampen geklemmt sind. Durch schmale Fenster, die durch ihre bunten Gläser fast wie Kirchenfenster wirken, fällt mattes Sonnenlicht in den Raum.  Die Tische sind rege besetzt und beim Näherkommen macht Marlenes Bauch einen weiteren Satz. Harry, Ron und Hermine sitzen an einem Tisch, über Bücher gebeugt – zumindest Hermine. Harry und Ron kichern leise und ernten daraufhin einen vernichtenden Blick von Hermine. Neben ihnen springt Czentovic auf und rauft sich die Haare, vor ihm ein Schachbrett, auf der anderen Seite des Brettes Dr. B mit einem entspannten Lächeln.
Sie wendet sich Richtung Fenster. Dort sitzt Meggie auf dem Sims und liest Winnetou. Vor ihr am Tisch sitzt Fynn mit Anna, der ihr das Lesen näher bringen möchte. Gegenüber der beiden trinkt Ed Kennedy mit seinem Hund Türsteher Kaffee und beobachtet Ronja, die auf dem Boden sitzt und einen Stock mit einem alten, fast schon stumpfen Messer schnitzt. Marlene ist einerseits verblüfft, andererseits aber auch entspannt. Die Gegenwart dieser Figuren macht sie glücklich und ruhig. Sie selbst hat sich im Vorbeigehen Don Quichotte geschnappt - das wollte sie schon lange noch einmal lesen. Sie setzt sich zu Ronja auf den Boden und schlägt voller Vorfreude das Buch auf. Allerdings kommt sie nur bis „In einem Ort der Mancha, auf dessen Namen ich mich nicht besinnen kann...“ , als die schwere Eingangstür zur Bibliothek geöffnet wird. Zwei graue Herren betreten den Raum und Marlene bekommt sofort das Gefühl, dass ihr die Zeit davon läuft. Die anderen packen hastig ihre Sachen zusammen. Marlene tut es ihnen gleich. Sie fühlt sich bedrängt und läuft in die Bibliothek hinein, gefolgt von den anderen. Aus einer Ecke stürzt der kleine Max im Wolfskostüm zu der Gruppe dazu. Marlene läuft gehetzt zu einer Tür am Ende des Ganges, aus der ein schmaler Lichtstrahl in den Raum fällt. Fast dort angekommen und die Hand schon zur Klinke ausgestreckt stellt sich ihr der Meister in den Weg. Hektisch schaut sie nach hinten. Die grauen Herren kommen immer näher. Marlene fragt ihn, was er wolle, während Hermine neben ihr die Hände über dem Kopf zusammenschlägt und beteuert, dass das wohl klar wäre, sie kämen erst nach drei richtig beantworteten Fragen durch die Tür. Marlene nickt dem Meister zu und signalisiert ihm, loszulegen.
„Warum wird der wilde Kerl Max von seiner Mutter auf sein Zimmer geschickt?“ Poltert er mit tiefer Stimme.
Ein Leichtes für Marlene. Genauso, wie die zweite Frage, in der es um den Namen des Mentors von Krabat geht. Bei der dritten Frage kommt sie ins Schwitzen.
„Warum kehrt Oliver Twist nach seinen Besorgungen nichtmehr zu Mr. Brownlow zurück?“ Einige Jahre ist das schon her, sie überlegt fieberhaft. Die grauen Herren stehen fast hinter ihnen. Plötzlich schießt es ihr wieder durch den Kopf: „Nancy und Sikes fangen den Jungen ab und zwingen ihn, zu Fagin und seiner Diebesbande zurückzukehren.“

Der Meister tritt zur Seite und Marlene reißt die Tür auf, stürzt hindurch und fällt, umgeben von buntem Licht, auf einen harten Steinboden. Wieder dieses Schwindelgefühl, wieder müssen sich ihre Augen an das wirkliche Licht gewöhnen. Sie liegt auf einer Straße, als ihr eine Hand hingestreckt wird. Sie packt zu und sieht einen Werkzeuggürtel vor sich. Kaum steht sie, läuft der Mann mit einer Lampe in der anderen Hand weiter. Sie schaut sich um und bemerkt, dass sie mitten in einem Filmset steht. Sofort schwirren ihre Blicke umher, sie durchschaut in Sekundenschnelle die Lage und schnappt sich beim Catering ein paar Flaschen Wasser. Wie selbstverständlich läuft sie an dem Fuhrpark des Teams vorbei zu einer Ecke, biegt nach rechts ab und findet sich auf einer anderen Straße wieder, die gesäumt ist von kleinen Geschäften, Cafés und Restaurants. Auf dieser Straße verteilt sie die Flaschen an die vorbeilaufenden Crewmitglieder. Sie erkennt die Katze, die alte Frau, das Mädchen mit den Kopfhörern. Am Café vorbeilaufend muss sie lächeln, als sie den dunkelhaarigen Mann sieht, auf den die Kamera gerichtet ist. Ein paar Meter weiter steht ein schwarzer Pavillon, unter dem der Monitor aufgebaut ist, auf dem zu beobachten ist, was gerade gedreht wird. Marlene läuft wie magisch angezogen dorthin. Der Regiestuhl ist leer. Ein junges Mädchen Anfang 20 drückt ihr eine Flasche Wasser in die Hand. Sie staunt nicht schlecht, als sie zu dem Stuhl herunterblickt und ihren Namen auf der Rückenlehne liest. Etwas verunsichert sieht sie nach rechts auf den Mann, der ihr zunickt mit einem Knopf im Ohr und einem Funkgerät am Gürtel. „Wir können einsteigen“ ruft dieser gleichzeitig auch in sein Headset. Marlene setzt sich, greift automatisch zu den Kopfhörern, die über ihrer Armlehne liegen, zieht sie sich über den Kopf und hebt den Blick in Richtung Monitor.

Sie erblickt sich selbst allein inmitten des Kinos mit einer Tüte voll Popcorn. Nicht vorne, nicht hinten. Um sie herum niemand, damit sie sich nach dem Film nicht darüber unterhalten muss.